Lebensgeschichte der Dunkelgräfin von Hildburghausen

Die Ankunft des Paares in Hildburghausen 



Englischer Hof

Am 7. Februar 1807 erhielt die Residenzstadt Hildburghausen merkwürdigen Besuch. In der Nacht passierte eine Kutsche das Stadttor und hielt vor dem Hotel "Englischer Hof" am Hildburghäuser Markt. Schon Tage zuvor wurde eine komplette Etage des Hotels für die Ankömmlinge gemietet. Der Kutsche entstiegen ein offenbar ebenso vornehmer wie wohlhabender Herr und eine zierlich wirkende Dame. Begleitet wurden sie von einem Diener namens Philipp Scharr, der die Kutsche lenkte und viele Wege und Dienste für die Herrschaften erledigte. Erst später wurde bekannt, dass sich das Paar Jahre zuvor bereits in Ingelfingen in Württemberg aufgehalten hat. Von Herbst 1803 bis März 1804 lebten sie in großer Abgeschiedenheit in der dortigen Hofapotheke. 

Das seltsame Verhalten des Paares



Post an Versay



Radefeldsches Haus



Geburtstagsbrief

 

Fremde war man in Hildburghausen seit dem Ausbruch der Französischen Revolution gewohnt. Der Herr, der unter dem Namen "Vavel de Versay" seine Post erhielt, bildete zusammen mit seiner Begleiterin dennoch eine Ausnahme. Sie lebten in völliger Zurückgezogenheit und pflegten nur die nötigsten Kontakte in der Öffentlichkeit. So sah man den Herrn gelegentlich spazieren gehen oder in der Kutsche ausfahren. Die Dame, immer verschleiert oder eine grüne Brille tragend, begleitete ihn oft, ging jedoch selbst nie allein außer Haus. Aufgrund des vornehmen Auftretens hielt man den Herrn für einen Grafen, die Dame für eine Gräfin.

Nach etwa einem halben Jahr zog das Paar in das herzogliche Gästehaus am Markt und 1808 in das am Rande der Altstadt liegende Haus der Witwe Radefeld. Hier konnte man sich etwas freier bewegen. Der Hinterhof des Hauses war von drei Seiten umbaut, sodass man ungesehen die Kutsche besteigen und verlassen konnte. Zudem wurde eine Köchin, Johanna Weber, engagiert, die für eine angemessene Verpflegung sorgte. Die Unterkunft im Radefeldschen Haus soll von der Herzogin Charlotte vermittelt worden sein - offenbar ein Beleg dafür, dass der Hildburghäuser Hof das Paar bevorzugt behandelte. Ab dieser Zeit war zudem Johann Carl Andreä, ein Kommissionär des Herzogs, für Vavel de Versay tätig.

Bezüglich des Verhältnisses der Dame zu ihrem Begleiter ist auf einen Brief vom 22. September 1808 zu verweisen, den sie anlässlich des 39. Geburtstages des Herrn verfasste: "Lieber guter Ludwig, ich wünsche Dir zu Deinem Geburtstag viel Glück und Segen, der Himmel erhalte Dich gesund bis in daß späteste Alter. Ach lieber Ludwig, es sind schon so viele Geburtstage, die ich bei Dir erlebe. Ach lieber guter Ludwig, der Himmel segne Dich für alles, was Du schon an mir getan hast und an mir tust. Ach lieber guter Ludwig, es tut mir leid, daß ich Dir auf Deinen Geburtstag keine Freude mache kann. Ach lieber Ludwig, ich habe hier eine Kleinigkeit für Dich gemacht. Ich schäme mich, daß ich Dir keine bessere Freude machen kann. Ach lieber guter Ludwig, Du wirst es doch von Deiner armen Sophie annehmen als ein Beweis meiner Liebe und Dankbarkeit. Ach lieber Ludwig, verzeihe mir doch, wenn ich dich beleidigt habe. Ach, ich bete zum Himmel, daß ich meine Fehler verbessern kann, daß Du guter Ludwig doch zufrieden mit mir sein möchtest und doch im Stande sei, Dir alles zu Deinem Gefallen zu tun, wie es Dir angenehm zu machen. Ach lieber guter Ludwig, ich weiß, daß meine Lage schrecklich war und ich danke Dir nochmals und bete zum Himmel, daß er Dich segnen möchte für alles. Ach lieber guter Ludwig, behalte mich lieb, ich danke Dir noch mal. Ich empfehle mich dem Schutz Marias. Deine arme Sophie bis ins Grab."


Schloss Eishausen

 

 

 

 

 

 


Illustration des 
Schlosses Eishausen
(Andre "Max" Müller)

Indes war auch hier der Aufenthalt nicht von Dauer. Am 30. September 1810 zogen die Herrschaften nach Eishausen, einem kleinen Dorf, wenige Kilometer von Hildburghausen entfernt. Das dortige Schloss, ein schlichter Rechteckbau am südlichen Dorfrand, befand sich seit 1802 im Besitz des Hildburghäuser Hofes und wurde nun an den Kommissionär Andreä vermietet, der es an den Herrn Vavel de Versay weitervermietete. So konnte Versay es vermeiden, selbst mit den Behörden in Verhandlung treten zu müssen.

Das Leben in Eishausen verlief in gleicher Art und Weise wie in der Stadt. Um den größeren Haushalt und die längeren Wege in die Stadt zu bewältigen, wurden einige zusätzliche Bedienstete engagiert. Die Köchin zog mit in das Schloss, durfte es fortan aber nicht mehr verlassen.

Über den Alltag im Schloss berichtete ein Zeitzeuge: "Eine ziemlich unveränderliche Tagesordnung herrschte. Früh um 4 oder 5 Uhr klopfte die 'Rufwärterin', so wurde das im Dorfe wohnende Dienstmädchen genannt, an einem Fenster des Schlosses, gab durch das Fenster die Milch an die Köchin ab, erhielt die Zeitung für den Pfarrer und andere Aufträge. Um 9 Uhr sah man die 'Bötin' aus der Stadt kommen; sie brachte Nahrungsmittel und andere Bestellungen aus der Stadt und die Briefe und Zeitungen der Morgenpost; ihr wurde das Schloß geöffnet; sie besorgte das Reinigen der Zimmer und dergleichen mehr. [...] Um 10 Uhr hielt gewöhnlich die Equipage des Grafen vor der Schloßthüre. Der Graf erschien mit der tief verschleierten Dame, führte sie mit dem Hut in der Hand die Treppe herab an den Wagenschlag, hob sie nach einer Verbeugung hinein, setzte dann sich selbst ein, und nun brausten die zwei riesengroßen pechschwarzen Rappen mit dem niemals zurückgeschlagenen Wagen, den 'Kammerdiener' in dreieckigem Hute und silberstrotzender Livree als Kutscher auf dem Bock, das Dorf hervor auf dem Wege nach Rodach zu, einem kleinen koburgischen Landstädtchen. Ein paar Hundert Schritte vor der Stadt wendete der Wagen um und fuhr nach Hause. Mitunter fuhr der Graf allein, ohne Begleitung der Dame; sehr selten des Nachmittags. Niemals ist die Dame allein ausgefahren. Gegen Mittag verließ die 'Bötin' das Schloß; am Nachmittage kam der 'Bote' mit den Nachmittagszeitungen und zur Besorgung neuer Geschäfte. Am Mittwoch und Sonnabend Nachmittag ging noch ein dritter Bote, ein Mann vom Dorfe, in die Stadt, um die Abendzeitung zu holen." 

Der Haushalt wurde sehr aufwendig geführt, für die Küche nur die besten Dinge beschafft, Möbel von weit entfernten Orten bezogen. Die Dienerschaft wurde reichlich bezahlt und der Herr übte eine große Wohltätigkeit aus. Schätzungen zufolge hat das Paar in den rund 30 Jahren in Hildburghausen und Eishausen zwischen 300.000 bis 500.000 Gulden ausgegeben - nach heutigen Maßstäben mehrere Millionen Euro.

Die Kontakte des Herrn de Versay beschränkten sich auf wenige Personen. Mit dem evangelischen Dorfpfarrer Heinrich Kühner unterhielt er eine intensive schriftliche Korrespondenz, ohne ihn jedoch jemals persönlich zu sprechen. Begegneten sich die beiden Männer im Dorf, grüßte man sich nur höflich.

Die Dame trat nie in Erscheinung und war bei Ausflügen mit ihrem Begleiter stets nur tief verschleiert zu sehen. Sie war offensichtlich von zarter und empfindlicher Natur und der Herr versuchte, sie vor jeglicher Unannehmlichkeit zu bewahren. So ließ er eines Tages sogar das Neujahrsschießen der Eishäuser Jugend unterbinden, um der Dame die erforderliche Ruhe zu sichern. Da dies mit behördlicher Unterstützung geschah, ist belegt, dass der Hildburghäuser Hof das Paar bevorzugt behandelte.


Herzog Friedrich von 
Sachsen-Hildburghausen 

Dies kommt auch in einem Schreiben zum Ausdruck, in dem Herzog Friedrich von Sachsen-Hildburghausen am 12. März 1824 seine Regierung anwies: "Wir Friedrich von Gottes Gnaden, Herzog zu Sachsen, souveräner Fürst von Hildburghausen [...] möchten [...] gegen den Herrn Grafen durchaus diejenigen Rücksichten beobachtet und betätiget wissen wollen, auf welche er sich durch sein bisheriges Benehmen selbst Ansprüche erworben und welche wir ihm gleich bei seinem Eintritte in unser Land haben gedeihen lassen. Wie wir denn den Herrn Grafen solange er seinen Aufenthalt in diesem fortsetzen wird, beständig unter Unseren besonderen Schutz nehmen und nicht zugeben werden, daß ihm irgendeine Unannehmlichkeit zugefügt werde [...]."

Selbst als 1826 der angestammte Herzog Hildburghausen verließ, um das Herzogtum Sachsen-Altenburg zu übernehmen und das Hildburghäuser Gebiet dem Herzogtum Sachsen-Meiningen unter der Regierung des jungen Herzogs Bernhard Erich Freund zugeschlagen wurde, blieb die rücksichtsvolle Behandlung des Paares bestehen.


Dr. Karl Kühner
Trotz ihrer Zurückgezogenheit konnte die Dame gelegentlich beobachtet werden. Dr. Karl Kühner, der Sohn des Dorfpfarrers, berichtete später: "Ich selbst habe die Gräfin, obschon ich 15 Jahre lang, theils ganz, theils in allen Ferien auf dem Dorfe lebte, überhaupt nur zwei Mal und nur ein Mal einigermaßen deutlich gesehen; dies Letztere geschah aus einiger Entfernung mittelst eines Glases. Es mag im Jahre 1818 gewesen sein. Die Gräfin stand am offnen Fenster und fütterte mit Backwerk eine Katze, die unter dem Fenster war. Sie erschien mir wunderschön; sie war brünett; ihre Züge waren ausnehmend fein; eine leise Schwermuth schien mir eine ursprünglich lebensfrische Natur zu umhüllen; in dem Augenblicke, wo ich sie sah, lehnte sie in schöner Unbefangenheit im Fenster, den feinen Shawl halb zurückgeschlagen, wie ein Kind mit dem Thiere unter sich beschäftigt. Ich sehe noch, mit welcher Grazie die schöne Gräfin das Backwerk zerbröckelte und die Fingerspitzen am Taschentuche abwischte."

Auch den Dienern blieben Einzelheiten nicht verborgen. Dorothea Nothnagel, die Tochter des Dieners Philipp Scharr und der Köchin Johanna Weber, wohnte acht Jahre im Schloss Eishausen und hat die Dunkelgräfin aus nächster Nähe erlebt. Sie schilderte sie "als eine Dame von sehr vornehmer Haltung, mit etwas ganz besonders feinem in ihren Zügen und so vornehm im Gang, daß niedriger Gestellte es gar nicht nachahmen könnten. Sie habe das Haar lange Zeit à la Titus getragen, habe großes, herrliches, blaues Auge gehabt und stets rote Wangen und sei 1835 noch, wo sie doch schon eine Fünfzigerin hätte sein müssen, noch immer sehr rüstig gewesen."

Tod des Paares



Grab der Dunkelgräfin

 

 

 

 

 


Grab des Dunkelgrafen

Das Leben des Paares, das in seiner Zurückgezogenheit so untypisch und damit auch auffällig war, endete erst nach 30 Jahren mit dem Tod der Dame. Sie litt in ihren letzten Lebensjahren unter erheblichen gesundheitlichen Problemen, insbesondere im Zahn- und Kieferbereich. Sie muss unter erheblichen Schmerzen gelitten haben, doch ein Arzt zur Behandlung ihrer Beschwerden wurde nie hinzugezogen. Nach längerer Krankheit, die im Zusammenhang mit der mangelnden Zahngesundheit und einer daraus resultierenden Blutvergiftung stehen könnte, starb sie am 25. November 1837. Der Herr ließ sie an einem ihrer Lieblingsplätze, einem Berggarten in Hildburghausen oberhalb des "Hauses Schulersberg", beisetzen und über dem Grab ein Monument aus Quadersteinen errichten. 

Nach dem Tod äußerte sich Vavel de Versay sporadisch zu seiner Begleiterin: "Meine Lage wird immer unerträglicher; es ist keine getrennte Ehe; es ist mehr, es ist eine Zerreißung eines zusammengewachsenen Geschwisterpaares; das Eine kann nicht ohne das Andere fortleben." "Sie war eine arme Waise, die Alles, was sie besaß, mir verdankte, aber mir das tausendfach vergolten hat." "Meine Verbindung mit ihr hatte etwas Romantisches, einer Entführung Aehnliches." 

Gegenüber dem Arzt Dr. Hohnbaum, der Vavel de Versay gelegentlich behandelte, äußerte er: "Denken Sie, damals war die Dame schon bei mir; ich mußte unaufhaltsam mit Courierpferden reisen; die Dame konnte ich nicht verlassen, sie mußte mich begleiten, und Niemand durfte ihr Dasein ahnen. Denken Sie, welche Verlegenheit." Und weiter: "Herr, Sie wissen gar nicht, welche Verantwortung Sie auf sich genommen hätten, wenn ich Sie zu dieser Dame geführt hätte." "Meine Zurückgezogenheit war lange eine gezwungene; in letzter Zeit aber war sie freiwillig."

Mehr als sieben Jahre überlebte Versay seine Begleiterin. Wie seine Dienerschaft später berichtete, hat er kurz vor seinem Tod zahlreiche Papiere verbrannt. Er starb schließlich am 8. April 1845 und wurde auf dem Friedhof von Eishausen beerdigt.

In Unkenntnis der wahren Namen der beiden wurden sie nach ihrem Tod als Dunkelgraf und Dunkelgräfin bezeichnet, Begriffe, die aus dem 1854 von Ludwig Bechstein verfassten Roman "Der Dunkelgraf" stammten.

 


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